Keine Abschiebungen nach Afghanistan! Perspektiven für junge Geflüchtete schaffen!
Junge Erwachsene aus Afghanistan wurden seit Ende 2016 – nachdem die Bundesregierung das Land in Teilen für sicher erklärte – bis zum Terroranschlag am 31. Mai 2017 in Kabul bundesweit vermehrt abgeschoben. Für die jungen Menschen ist das in der Regel eine Katastrophe. Ein Jugendlicher, der aus Afghanistan geflohen ist und in Baden-Württemberg in einer Gastfamilie lebt, erklärt angesichts der Abschiebebedrohung: „Ich habe viel Angst! Wenn ich keine Probleme gehabt hätte in Afghanistan, wäre ich niemals nach Europa, nach Deutschland geflüchtet. Ich habe in Afghanistan keine Chance – gar nix! Ich gehe nie mehr zurück nach Afghanistan! Ich bin in Afghanistan geboren – Afghanistan ist meine Hei-mat! Ich liebe mein Heimatland – aber ich habe dort keine Chance als Hazara!“ Afghanistan ist nicht sicher
Dass Afghanistan ein Land sein soll, in dem Menschen darauf verwiesen werden können, innerhalb des Landes Schutz zu suchen, ist überdies sehr umstritten und löste seit Ende 2016 eine bundesweite De-batte – auch im Deutschen Bundestag – aus. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) und Pro Asyl e.V. betonen, dass in Afghanistan Lebensgefahr droht. UNHCR kommt in seiner Bewertung auf Anfrage des Bundesinnenministeriums zu dem Schluss, dass das gesamte afghanische Staatsgebiet von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt betroffen ist und somit pauschal keine sicheren Ge-biete feststellbar sind (UNHCR 2016). Die Sicherheitslage habe sich verschlechtert, in 2016 wurden die meisten zivilen Opfer seither gezählt. Eine halbe Million Menschen mussten in 2016 fliehen, insgesamt gibt es in Afghanistan über eine Million Binnenvertriebene. Zudem müssen viele afghanische Flüchtlinge derzeit Pakistan und den Iran verlassen und nach Afghanistan zurückkehren, in 2016 gab es mehr als eine Million Flüchtlinge. Anschläge, bei denen zahlreiche Menschen ihr Leben verlieren, wie beispielsweise am 31. Mai und 03. Juni 2017, verdeutlichen die Situation in Afghanistan.

Jungen Menschen fehlt Unterstützung im Asylverfahren
Unbegleitete minderjährige Geflüchtete haben vor Vollendung des 18. Lebensjahrs gute Chancen auf einen positiven Abschluss ihres Asylverfahrens und so eine vergleichsweise sichere aufenthaltsrechtli-che Perspektive. Vielfach wird jedoch berichtet, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Termine zur persönlichen Anhörung im Asylverfahren zunehmend erst kurz nach Vollendung des 18. Lebensjahres vergibt. Dies führt dazu, dass die Asylanträge der minderjährig eingereisten jungen Menschen, die nun als Erwachsene gelten, abschlägig beschieden werden, weil zum einen kindesspezi-fische Fluchtgründe keine Beachtung mehr finden und zum anderen die inländische Fluchtalternative in Afghanistan eine abweichende Bewertung des Asylantrages zulässt als bei Minderjährigen.
Zu diesem Zeitpunkt stehen die jungen Volljährigen außerdem ohne Unterstützung eines Vormunds da und müssen sich im komplizierten Asyl- und Aufenthaltsrecht selbst vertreten. Gegenwärtig ist eine Vielzahl junger, gut integrierter Afghanen von Abschiebung bedroht. Diese können ihre (aufenthalts-) rechtliche Situation und die ihnen zustehenden Rechte in der Regel nicht ausreichend einschätzen und erfahren meist keine Unterstützung dabei, sie auszuschöpfen. Daher wird oft keine Klage gegen den Ablehnungsbescheid eingereicht oder diese – mangels rechtlicher Kenntnisse – nicht ordnungsgemäß betrieben. Dies, obwohl im „Memorandum für faire und sorgfältige Asylverfahren“ zahlreicher zivilge-sellschaftlicher Organisationen (Amnesty International u.a. 2016) deutlich wurde, dass Ablehnungsbe-scheide oft fehlerhaft sind.
Auch über die vom Gesetzgeber mit dem Integrationsgesetz bewusst eingeführte Möglichkeit, den Auf-enthalt bei laufendem oder bevorstehendem Ausbildungsverhältnis über eine Ausbildungsduldung zu sichern (§ 60a AufenthG) oder die Regelung für gute integrierte Jugendliche und Heranwachsende (§25a AufenthG) werden die jungen Menschen häufig nicht oder nicht zureichend informiert.
Die jungen Geflüchteten benötigen daher kompetente Unterstützung sowohl im Asylverfahren als auch darüber hinaus in Bezug auf ihre aufenthaltsrechtlichen Möglichkeiten durch qualifizierte Beratung.

Weitreichende Folgen der Abschiebepolitik auch für Kinder und Jugendliche
Für die jungen Menschen, die minderjährig und unbegleitet eingereist sind, ist die Kinder- und Jugend-hilfe zuständig, häufig auch über den 18. Geburtstag hinaus, denn sie brauchen oftmals weiterhin Hilfe und Unterstützung. Die Arbeit der Kinder- und Jugendhilfe wird jedoch in vielen Fällen konterkariert oder sogar zunichte gemacht, weil die Angst vor Abschiebungen nach Afghanistan zu extremer Verun-sicherung und schwindender Motivation zur Integration führt.
Die Pflegemutter eines 18-jährigen Afghanen, der einen Ablehnungsbescheid erhalten hat, berichtet: „Er ist schwer psychisch krank, er leidet an einer massiven posttraumatischen Belastungsstörung, mit Triggern, Flashbacks und Dissoziationen, ist schwer depressiv, Albträume jede Nacht, Konzentrations-störungen, Panik und stark erhöhte Suizidgefahr. Er befindet sich seit fünf Monaten in psychiatrischer Behandlung und genauso lange in Psychotherapie. Wir haben als Pflegeeltern 16 Monate Schwerstar-beit geleistet, um ihn einigermaßen zu stabilisieren und diese Stabilisierung ist mit Bekanntgabe des Ergebnisses der kompletten Ablehnung in allen Punkten innerhalb von wenigen Sekunden vor unseren Augen pulverisiert. Er ist komplett in sich zusammengebrochen. Er droht mit Suizid, wenn er zurückge-schickt wird. Er benötigt jede Nacht meine Nähe, da er alleine nicht schlafen kann und er verkrampft im Schlaf, wie wenn er Anfälle hätte. Wie gesagt, ich sehe das mit eigenen Augen jede Nacht.“
Aber auch Kinder und junge Menschen, die aktuell nicht von Abschiebung bedroht sind, sind von der ständigen Angst und Unsicherheit betroffen: Fachkräfte in den Einrichtungen berichten übereinstim-mend, dass sich die Auswirkungen der forcierten Abschiebepraxis auf alle jungen Geflüchteten (unab-hängig vom Herkunftsland) ausweiten und in den Unterkünften große Beunruhigung herrscht: „Sie er-leben, dass nahezu alle Asylanträge ihrer afghanischen Bekannten abgelehnt werden und warten mit Angst und teilweise Panik auf ihre eigene Anhörung bzw. auf ihren eigenen Bescheid. Sie sind berührt und betroffen von der Verzweiflung nahestehender Freunde, wenn deren Asylantrag abgelehnt wurde“ (vgl. BumF 2017).
Wir sehen die sozialpädagogische Arbeit der Jugendhilfe und vieler ehrenamtlich Engagierter mit den Kindern und Jugendlichen, die Anstrengungen, sie nach oft traumatischen Erlebnissen zu stabilisieren, und das Ziel souverän handelnder junger Menschen torpediert. Unterstützungsstrukturen, die aufge-baut wurden und die den Jugendlichen dabei helfen sollen, in Deutschland anzukommen, sich zu integrieren und eine Perspektive zu entwickeln, werden quasi ad absurdum geführt. Gastfamilien sind ver-zweifelt, wenn ihren Heranwachsenden die Perspektive genommen wird und damit auch ihre Bemü-hungen konterkariert werden.
Für junge Menschen ist gerade die empfindliche Phase des Übergangs ins Erwachsenenleben und des Selbstständigwerdens eine große Herausforderung. Unbegleitete minderjährige Geflüchtete müssen zudem eine neue Kultur und Lebensverhältnisse kennen und verstehen lernen und oftmals mit trauma-tischen Erfahrungen zurechtkommen. Junge Menschen brauchen einen sicheren Ort zum Aufwachsen sowie Rahmenbedingungen, die Eigenständigkeit, Gemeinschaftsfähigkeit und Mündigkeit fördern und die Möglichkeit, sich ihrem Alter entsprechend „ausprobieren“ zu können. Dies gilt umso mehr, wenn ihre äußerlichen Lebensumstände von Unsicherheit geprägt sind, was bei jungen Geflüchteten ohne sicheren Aufenthalt grundsätzlich der Fall ist. Je näher die formale Volljährigkeit rückt ohne, dass der Aufenthalt gesichert ist, desto mehr verschärft sich diese Unsicherheit (vgl. BumF Leitfaden 2017).

Abschiebungen und Abschiebeandrohungen bedrohen die Lebensperspektive junger Menschen
Die betroffenen jungen Menschen leben bei Erhalt des Ablehnungsbescheides, der mit einer Ausreise-aufforderung und Abschiebungsandrohung verbunden ist, meist in Jugendhilfeeinrichtungen oder Gastfamilien. Sie haben nach ihrer Ankunft in Deutschland verschiedene „Stationen“ hinter sich, wie vorläu-fige Inobhutnahme, ggf. Verteilung in die aufnehmenden Bundesländer und Inobhutnahme mit Clearing und die weiterführende Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung oder Gastfamilie. Dies sind dann die Orte in Deutschland, an denen die jugendlichen Geflüchteten „ankommen“ können. Hier erst wird stabilisierende und kontinuierliche Hilfe wie sozialpädagogische Begleitung oder auch therapeutische Hilfen ermöglicht. Ein plötzlicher Abbruch dieser Hilfen ist, wie die Kinderkommission aktuell hervor-hebt, „verantwortungslos und schlecht für die Integrations- und Zukunftschancen“ der jungen Men-schen (Kinderkommission 2017)). Eine bundesweite Studie des Bundesfachverbands unbegleiteter min-derjährige Flüchtlinge (BumF) zeigt genau dies: Viele junge Menschen resignieren und ihre psychische Verfasstheit wird instabiler, wenn die Perspektive und Sicherheit der jungen Menschen durch die Ab-schiebepolitik bedroht wird (vgl. BumF 2017) Junge Menschen brauchen einen sicheren Ort zum Auf-wachsen sowie Rahmenbedingungen, die Eigenständigkeit, Gemeinschaftsfähigkeit und Mündigkeit fördern.
Auch auf die Ausbildungsperspektiven wirkt sich die Politik der Abschiebungen junger Menschen aus. Arbeitgeber*innen, die sich in der Ausbildung von jungen Geflüchteten engagiert haben, sind entsetzt, wenn trotz der Möglichkeit der Ausbildungsduldung junge Menschen auch nach Abschluss eines Aus-bildungsvertrages oder sogar während der Ausbildung abgeschoben werden1. Die Unsicherheit über ein Bleiberecht und der schwierigen Zukunftsgestaltung macht es potenziellen Arbeitgeber*innen sehr schwer, jungen Menschen ohne Aufenthaltstitel einen Ausbildungsplatz anzubieten, auch Praktikums-plätze sind kaum noch zu finden. So wird die Integration aller jungen Geflüchteten, auch derer mit Blei-berechtsperspektive, nachhaltig gestört und erschwert und die Zukunftschancen und Teilhabemöglich-keiten der jungen Menschen in Frage gestellt.
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/fluechtlinge-in-ausbildung-abschiebung-von-azubis-empoert-firmen-1.3478012

Abschiebungen stoppen! Junge geflüchtete Menschen unterstützen!
Die zunehmend beobachtbare Diskursverschiebung von sozialpädagogischen hin zu ordnungspoliti-schen Sichtweisen und Handlungsansätzen konterkariert auch die bisherigen großen Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe. Wir fordern die Verantwortlichen auf, den jungen Menschen eine Zukunfts-perspektive zu ermöglichen und von Abschiebungen und Abschiebeandrohungen konsequent abzuse-hen. Wir weisen darauf hin, dass drohende Abschiebungen und Bleiberechtsunsicherheit die Integra-tion der jungen Menschen massiv erschweren oder sogar unmöglich machen.

Weiterführende Literatur
– Amnesty International u.a. (Hrsg.) (2016): Memorandum für faire und sorgfältige Asylverfahren in Deutschland – Standards zur Gewährleistung der asylrechtlichen Verfahrensgarantien, https://www.proasyl.de/wp-content/uploads/2015/12/Memorandum-f%C3%BCr-faire-und-sorgf%C3%A4ltige-Asylverfahren-in-Deutschland-2016.pdf, letzter Aufruf: 11.10.2017.
– Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (2017): Angst und Verunsicherung unter unbegleiteten Minderjährigen aus Afghanistan – Ergebnisse einer Befragung des Bundes-fachverbands umF e.V.
– Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (2017): Junge Geflüchtete auf dem Weg in ein eigenverantwortliches Leben begleiten. Ein Leitfaden für Fachkräfte. 05/2017, www.bumf.de, letzter Aufruf: 11.10.2017.
– Kinderkommission (2017): Stellungnahme der Kinderkommission des Deutschen Bundestages zum Thema „Kinderrechte für Flüchtlingskinder in der Unterkunft, dem Asylverfahren und der Kinder- und Jugendhilfe“ vom 23. März 2017, https://www.bundes-tag.de/blob/502048/9c509a0b91695b5fa0ff2e6a0c60cffd/stellungnahme_kinderrechte_fluecht-lingskinder-data.pdf, letzter Aufruf: 11.10.2017.
– Pro Asyl (2017): Hinweise für afghanische Flüchtlinge und ihre Berater*innen, https://www.proasyl.de/hintergrund/hinweise-fuer-afghanische-fluechtlinge-und-ihre-beraterinnen/, letzter Aufruf: 11.10.2017.
– Pro Asyl (2017): Thema: Unsicheres Afghanistan, https://www.proasyl.de/thema/unsiche-res-afghanistan/, letzter Aufruf: 11.10.2017.
– UNHCR (2016): Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesmi-nisterium des Innern, https://www.proasyl.de/wp-content/uploads/2015/12/2017-Bericht-UNHCR-Afghanistan.pdf, letzter Aufruf: 11.10.2017
– Berlin und Frankfurt am Main, den 18. Oktober 2017, Bundesfachverband für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF), www.b-umf.de
– Diakonie Deutschland, www.diakonie.de
– Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH), www.igfh.de
– Kompetenzzentrum Pflegekinder, www.kompetenzzentrum-pflegekinder.de