„Gerade jetzt wo viele junge Menschen ins Arbeitsleben starten, wird nichts darüber gesagt bzw. Hilfestellungen für uns angeboten“ so formuliert es ein junger Mensch in der Studie JuCo II von Wolfgang Schröer. Sozialarbeiter in Bayern klagen: Dass die Jobcenter wegen Corona kaum noch Parteiverkehr zulassen, bringt viele Menschen in Not
Quelle: epd Nachrichten mobil Nr. 244 23.12.2020
Autorin: Christine Ulrich (epd)
München (epd). Mehrere Monate wurden einem jungen Mann die Heizkosten nicht erstattet. 50 Euro im Monat, das ist viel für jemanden, der sonst fast nichts hat. Aber das kann passieren beim Jobcenter. Oft fehlt nur ein Formular. Dann genügt ein Anruf oder ein Besuch, schon klärt sich die Lage. Doch in Corona-Zeiten, da die Jobcenter für Präsenzbesuche fast geschlossen sind, ist das häufig anders. Viele Anliegen seien umständlicher, langwieriger und teils erfolgloser geworden, klagen Sozialarbeiter und Flüchtlingshelfer. Bei ihnen staut sich die Arbeit. Sie sorgen sich um die Menschen, die keine Hilfe in Anspruch nehmen – zumal in Zeiten, da viele arbeitslos werden.
Seit Mitte März haben die Jobcenter, in denen Arbeitslosengeld II (ALG II, „Hartz IV“) beantragt wird, in ganz Bayern den Parteiverkehr drastisch reduziert – aus Gründen des Infektionsschutzes. Niemand kann mehr einfach hingehen und mit einem Berater sprechen. Wer dringend einen der wenigen Vor-Ort-Termine haben möchte, muss diesen online oder telefonisch vereinbaren. Ansonsten läuft das Beantragen von ALG II quasi nur noch online. Übrige Anfragen werden über Hotlines oder E-Mail abgewickelt.
Den Fall des Heizkosten-Klienten erzählt Johanna Albert (Name geändert), eine Angestellte aus der Flüchtlingshilfe. Sie will weder ihren Namen veröffentlicht wissen noch ihren genauen Beruf oder die kleine südbayerische Stadt, in der sie tätig ist, „weil ich ja weiterhin gut mit dem Jobcenter zusammenarbeiten will“. Nachdem ihr Klient von den ausstehenden Zahlungen berichtete, mailte sie der Leistungsabteilung des Jobcenters. Nichts tat sich. Sie mailte ein zweites Mal, dann rief sie die Servicehotline an, nach Monaten klärte sich der Fall.
„Vor Corona konnte man einfach mal hingehen und nachfragen“, sagt Albert. Zumindest in kleineren Städten sind es oft enge Beziehungen zwischen Beratern, Sozialarbeitern und Klienten, etwa jugendlichen Geflüchteten. Man kennt sich eine Weile, bis ein Hilfeempfänger wieder in Arbeit gelandet ist. Doch jetzt gebe es mit dem Jobcenter seit Monaten nur Telefonkontakt, klagt Albert: „Ich habe kein Verständnis für die Schließung. Jede Kassiererin kann auch hinter Plexiglas arbeiten, mit Maske.“
Karin Costanzo (Name geändert), Sozialpädagogin in einer nordbayerischen Kleinstadt, berichtet: Bei manchem ihrer Jugendlichen sei ein mühsam ergatterter Gesprächstermin geplatzt, weil der Klient ihn aufgrund seines Drogenkonsums verpennt habe – das ist Alltag. Doch nun sei es „extrem aufwändig, einen neuen Termin zu bekommen“. Sorgen bereiten ihr vor allem die jungen Leute, die nicht an eine Einrichtung angebunden sind, welche ihnen hilft, den ALG-II-Erstantrag online zu stellen.
Denn dieser hat es in sich. Man braucht einen Computer, er ist inhaltlich und sprachlich komplex. Das allein zu schaffen, sei für viele Menschen unmöglich, sagt Barbara Klamt von der Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) Jugendsozialarbeit Bayern. Vor Corona reichten viele Klienten, darunter Geflüchtete, fehlende Unterlagen persönlich in den Jobcentern nach. Doch diese Aufgabe bleibt nun häufig an den Sozialberatern hängen. Dies beklagten im Sommer auch Mitarbeiter der Diakonie München.
Da die Probleme offenbar in vielen bayerischen Städten ähnlich sind, haben sich die Fachkräfte beschwert. Die LAG Jugendsozialarbeit etwa hat im Spätherbst an diverse Vertreter von übergemeindlichen Gremien geschrieben.
Aus dem Jobcenter München heißt es auf Anfrage des Evangelischen Pressedienstes (epd), bislang seien dort keine Beschwerden über die geänderten Kontaktwege bekannt. Viele Bürger zeigten Verständnis für die Maßnahmen und seien „froh, ihre Anliegen telefonisch, digital oder postalisch erledigen zu können“, teilen die Sprecher der Bundesagentur für Arbeit, Regionaldirektion Bayern, und des Münchner Jobcenters gemeinsam mit.
Da der Gesundheitsschutz für Mitarbeiter und Kunden „höchste Priorität“ habe, seien die „Zugangswege angepasst“ worden: Auf Empfehlung seiner Träger – der Arbeitsagentur und der Kommune – habe das Jobcenter München die persönliche Beratung „vorübergehend auf terminierte Gespräche und Notfälle beschränkt“.
Wegen des „gestiegenen Anrufvolumens“ sei ein zusätzliches telefonisches Angebot für Menschen eingerichtet worden, die erstmalig ALG II beantragen. „Besonders in der Krise legen wir gesteigerten Wert auf die Qualität der telefonischen Beratung, um möglichst adäquat die persönliche Beratungssituation zu ersetzen“, sagen die Sprecher. Auch das digitale Angebot sei erweitert worden. Zudem habe der Gesetzgeber den Zugang zu den Grundsicherungssystemen vereinfacht.
Albert und Costanzo bereitet Sorgen, dass die Angebote dennoch zu hochschwellig geworden sein könnten. Viele Bedürftige versuchten es zurzeit womöglich gar nicht erst, ihre Ansprüche auf Leistungen aus dem Sozialgesetzbuch II und XII oder auf Qualifizierungsmaßnahmen geltend zu machen, vermuten sie: „Wie viele Gelder wohl gar nicht bezogen werden?“
In Bayern bezogen im August mehr als 295.000 Menschen Hartz IV. Allein in München sind es derzeit rund 54.000 Menschen – was laut Bayerischem Rundfunk (BR) rund 20 Prozent mehr sind als im Februar, also vor der Corona-Krise.
Den Vorwurf der Hochschwelligkeit können Jobcenter und Arbeitsagentur nicht nachvollziehen: „In dringlichen Fällen und Notfallsituationen“ seien weiterhin Vorsprachen ohne Termin möglich, betonen die Sprecher. Zudem würden telefonisch Dolmetscherdienste angeboten. In München gebe es auch Versuche mit „Beratungs-Spaziergängen“ und Videoberatung.
Die Jobcenter-Berater vor Ort könnten nichts für die Probleme, sagt Costanzo. Doch sie wünsche sich, dass „auch in den übergeordneten Stellen klar wird, dass Corona uns noch eine Weile begleiten wird und dass wir handhabbare Lösungen finden müssen“. Von Jobcenter München und Arbeitsagentur heißt es, sobald die Lockdown-Regelungen aufgehoben würden, „werden wir auch wieder sukzessive, abhängig vom Infektionsgeschehen, das persönliche Beratungsangebot ausbauen“. (00/4433/22.12.2020)
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